FACHBEREICH GESCHICHTE, ETHIK UND THEORIE DER MEDIZIN

Geschichte der Psychiatrischen Pflege

Psychiatrische Pflege zwischen Modernisierung, Professionalisierung und Politisierung - Landes-Heil- und Pflege-Anstalt Uchtspringe 1894-1933

Anna Siemens (geb. Urbach)

Die Einbeziehung des Pflegepersonals in die psychiatrische Dokumentationspraxis sowie die Mitwirkung an somatischen Behandlungsverfahren, wissenschaftlichen Untersuchungen und gemeindenahen Versorgungsformen stellen Schlüsselmomente in der Qualifizierung von männlichen und weiblichen Pflegekräften dar. Das Dissertationsprojekt verfolgt die These, dass die ab den 1890-er Jahren zunehmend medizinisch geprägten, „modernen Epileptikeranstalten“ als Vorreiter einer spezifischen Ausbildung von psychiatrischen Pflegekräften fungierten und dies eine veränderte Fremd- und Selbstwahrnehmung der dort tätigen Pflegerinnen und Pfleger bewirkte. Zudem wird die Frage erörtert, inwiefern das daraus folgende gewandelte pflegerische Rollenverständnis unter gewissen Umständen und Voraussetzungen mit einer Politisierung der „Irrenpflege“ einherging, sprich: ob sich Belege für ein frühes berufspolitisches Engagement von Psychiatriepflegenden an der Basis finden lassen. Als Ausgangspunkt der Untersuchungen wurde die schriftlichen Überlieferungen der ehemaligen Landes-Heil-und Pflege-Anstalt Uchtspringe im ländlichen Raum der Altmark gewählt. Den Untersuchungszeitraum begrenzte ich dabei auf die Zeit zwischen der Anstaltseröffnung im Jahre 1894 und der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933.

Die übergeordnete Fragestellung wurde in mehreren separat publizierten Teilfragestellungen bearbeitet, die aufeinander aufbauen:

a) Epilepsie(n) und ihre Aufschreibesysteme: Ausgehend von den pflegerischen Aufzeichnungen von Uchtspringe habe ich untersucht, warum Pflegende gerade in Einrichtungen für Epilepsiekranke frühzeitig mit Aufgaben der Krankenbeobachtung, der Dokumentation und der Intervention betraut wurden und wann dies erstmals geschah. Ich habe nachverfolgt, welche Auswirkungen dies sowohl auf den Pflegealltag und die Machtverhältnisse innerhalb der Anstalt als auch auf die berufliche Identifikation von „Irrenpflegern“ hatte. Im Vordergrund standen vor allem die Rollenbedeutung der pflegerischen Anfallsdokumentation und deren praktische Umsetzung. Hier erwies sich als aufschlussreich, die ärztlich geleitete öffentliche Einrichtung Uchtspringe mit der konfessionell geprägten Anstalt Stetten zu vergleichen, wo der Arzt Hermann Wildermuth (1852–1907) um 1880 die pflegerische Dokumentation der Epilepsie(n) erstmals strukturierte und vereinheitlichte.

b) Pflege und Arbeitstherapie: Wie kein anderes Behandlungskonzept hat Arbeit als therapeutisches Mittel die Anstaltspsychiatrie von Beginn an begleitet. Die neuen räumlichen Verhältnisse sowie die hohen Belegzahlen der zahlreichen, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erbauten großen „Irrenanstalten“ des deutschsprachigen Raumes brachten Voraussetzung für einen breitgefächerten und zahlenmäßig hohen Arbeitseinsatz der Anstaltsbewohnerinnen und -bewohner mit sich.  Insbesondere die Pflegekräfte sahen sich durch die Einführung neuer intra- und extramuraler Beschäftigungszweige für die Pfleglinge mit neuen Herausforderungen konfrontiert, erweiterte sich doch damit einhergehend der Bewegungsradius der Anstaltsbewohnerinnen und -bewohner um ein Vielfaches. In meinen Studien zur Arbeitstherapie in der Anstalt Uchtspringe untersuchte ich, mit welchen Aufgaben die Pflegenden im Kontext der Krankenbeschäftigung betraut wurden. Weiter zeichnete ich nach, mit welchem Verständnis von Krankenarbeit sie in den anstaltseigenen Kursen vertraut gemacht wurden und welche konkreten Handlungsschritte ihrer Arbeit sie dort kennenlernten. Darüber hinaus forschte ich umfassend zur Rechtfertigung, Durchführung und Aneignung der Patientinnen- und Patientenarbeit in der Uchtspringer Einrichtung in ihrem doppeldeutigen Charakter zwischen den Polen Therapie und Ökonomie. Dabei fokussierte ich die ersten zwei Jahrzehnte der Anstalt und beleuchtete in ausgewählten Aspekten darüber hinaus die Weimarer Zeit.

Für einen weiteren Beitrag wählte ich einen anderen methodischen Zugriff, um die im Kontext einer „freieren Behandlung der Irren“ vermehrt zum Einsatz kommenden Behandlungsverfahren Bett- und Arbeitstherapie sowie die „feuchte Einwicklung“ zu untersuchen. Bei dieser Annäherung an die psychiatrische Praxis über die Materialität rückten insbesondere gewebte Stoffe in den Fokus, welche im Spannungsfeld zwischen ärztlichem und pflegerischem Vorgehen und dem Agieren von Patientinnen und Patienten wirkten.

c) „Irrenpflege“ und Berufspolitik: Die Kompetenzerweiterung und Spezifizierung, welche das Pflegepersonal in Uchtspringe erfuhr, ließ mich zugleich eine Politisierung der Pflegekräfte vermuten. Aus der Literatur ist bekannt, dass „Irrenpflegern“ ein von der Anstaltsleitung unabhängiges Agieren in einem Gewerkschaftsverband bis zur Aufhebung des Koalitionsverbotes im Jahre 1918 strengstens untersagt war. Dessen ungeachtet fanden sich in den mir vorliegenden Quellen Hinweise auf eine verdeckte Mitgliedschaft mehrerer Uchtspringer Pflegerinnen und Pfleger im christlichen Gewerkschaftsverband noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Für die Weimarer Zeit ist zudem die Bezeichnung „Rotes Uchtspringe“ überliefert, was bisher allein auf das Wirken des Psychiaters Heinrich Bernhard (1893–1945), eines bekennenden Sozialdemokraten, zurückgeführt wurde, welcher von 1929 bis 1933 der Uchtspringer Einrichtung als Direktor vorstand. Ich nahm dies zum Anlass, um exemplarisch Voraussetzungen, Umstände und Hindernisse einer gewerkschaftlichen Organisation von Psychiatriepflegenden im Deutschen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu untersuchen. Im Mittelpunkt stand dabei die 1919 gegründete Uchtspringer Ortsgruppe des SPD-nahen „Verbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter“ (VGS), welche sich zur Zeit der Weimarer Republik als wichtigster gewerkschaftlicher Vertreter des Uchtspringer Personals etablierte.

„Assoziierte Publikationen und Vorträge“ siehe:

Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin - Publikationen und Vorträge (ovgu.de)

Letzte Änderung: 30.01.2024 - Ansprechpartner:

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